Der Zinseszins kann sehr viel bewirken. Aber in der Praxis fällt das Ergebnis regelmäßiger Einzahlungen weniger beeindruckend aus als in der Modellrechnung präsentiert.
Bei der Beurteilung der Wichtigkeit von Sparplänen für den Vermögensaufbau und die Altersvorsorge wird dem Zinseszinseffekt enorme Bedeutung zugesprochen. Entsprechende Beispiele basieren dann häufig auf sehr langen Laufzeiten oder zumindest auf sehr hohen Renditen – oder idealerweise der Kombination aus beiden: Hätten die Urahnen eines Anlegers zu Beginn unserer modernen Zeitrechnung lediglich einen Euro zu 1% Zins angelegt, wären es dennoch heute nach 2024 Jahren weit mehr als 5 Millionen Euro. Angenommen, die Vorfahren des Anlegers waren nicht so weise, aber er erzielt heute 100% jährliche Rendite – dann vertausendfacht sich sein Vermögen alle zehn Jahre. Beides klingt auf alle Fälle beeindruckend!
Bei genauerer Betrachtung haben die meisten Menschen nicht so viel Zeit und auch eine fortlaufende Rendite von 100% ist schwer zu realisieren. Auf die heutige Zeit übertragen hört sich die realistische Geschichte deshalb ungefähr so an: Der Aktienmarkt erzielt langfristig eine Rendite von 6% oder auch gerne 8%. Es reicht, regelmäßig in Aktien zu sparen und in 30 Jahren, besser noch 40, baut sich ein Vermögen auf. Jeder Anleger muss aber prüfen, welche Ergebnisse in der Praxis wirklich erzielt werden können.
Was die Rendite nicht leisten kann
Aus 8% werden damit zunächst 6% und bei 3% Inflation in der Folge knapp 3% reale Rendite. Bei einer Ausgangsrendite von 6% landet man nach Steuern sogar bei nur knapp 4,5% und nach Inflation bei weniger als 1,5%. Berücksichtigt man schließlich noch die Transaktionskosten, die selbst bei einem ETF anfallen, sind die Renditen in beiden Szenarien nicht ausreichend, um bei kurzen Laufzeiten wirklich vom Zinseszinseffekt profitieren zu können.
Was die die Rendite nicht leisten kann, kann eventuell durch die Laufzeit ausgeglichen werden. Wobei sich die Frage stellt, ob 40 Jahre ein ausreichend langer Zeitraum für einen Sparplan sind? Immerhin fallen dann 39 Jahre lang Erträge auf bereits erhaltene Erträge an, die Zinseszinsen. Allerdings gilt das nur für die Erträge des ersten Jahres. Bereits im zweiten Jahr bleiben nur noch 38 Jahre übrig und so geht es immer weiter, bis sich im letzten Jahr schließlich keine zusätzlichen Erträge mehr ergeben. Im Ergebnis bleibt etwas weniger als die Hälfte der betrachteten Laufzeit für den Zinseszinseffekt übrig. Und wiederum muss die Inflation auch bei dieser Laufzeit-getriebenen Betrachtung berücksichtigt werden.
Sie sorgt dafür, dass eine Einzahlung von 100 Euro im ersten Jahr etwas anderes ist als die Einzahlung von 100 Euro im zweiten Jahr. Um den Inflationseffekt auszugleichen, muss der Anleger die Einzahlungen in den Folgejahren, oder genauer sogar schon in den Folgemonaten, erhöhen. Also im zweiten Monat bereits 100,25 Euro oder spätestens im zweiten Jahr 103 Euro. Im 38. Jahr belaufen sich die um die Inflation korrigierten Einzahlungen dann schon auf über 300 Euro. Damit fällt die gewichtete Laufzeit des Sparplans auf knapp über 16 Jahre. Das sind rund 40% der Laufzeit von 40 Jahren und nicht viel Zeit für den Zinseszinseffekt.

Bei den meisten Sparern kommt darüber hinaus noch ein weiteres Problem hinzu: In der Regel sind die Einkommen in jungen Jahren geringer, dafür sind die Kosten höher, besonders wenn Kinder im Spiel sind. Damit steigt die Sparrate erst in der zweiten Lebenshälfte stärker als die Inflation. Der Zinseszinseffekt kommt dann aber nicht mehr so zum Tragen, womit die gewichtete Laufzeit noch weiter abnimmt.
Im Ergebnis bleibt das nominale Ergebnis beeindruckend, welches nach 40 Jahren erzielt werden kann. Bei einer konstanten jährlichen Rendite in Höhe von 6% sind es gut 190.000 Euro, bei 8% sogar 322.000 Euro. Wer die Einzahlungen zusätzlich dynamisch anpasst, um den Wert und die gefühlte Belastung beizubehalten, kommt auf noch beeindruckendere Zahlen. Bei 6% Rendite sind es jetzt schon 286.000 Euro und bei 8% sogar über 454.000 Euro. Aber das Ganze eben nur nominal und vor Kosten und Steuern.
Wo wir gerade bei schlechten Neuigkeiten sind
Wer die Kosten von wenigstens 0,1% pro Jahr gerechnet auf das Vermögen abzieht und zusätzlich die Kapitalertragssteuer samt Solidaritätszuschlag berücksichtigt, muss deutliche Abschläge in Kauf nehmen. Bei 6% bleiben nur knapp 250.000 Euro übrig, ein Verlust von rund 37.000 Euro. Bei 8% ist der Verlust aufgrund der höheren Erträge mit 70.000 Euro fast doppelt so hoch, so dass nur 384.000 Euro verbleiben. Alles aber immer noch nominal, also mit den Werten von heute gerechnet.
Die Inflation wird allerdings in den 40 Jahren dafür sorgen, dass mehr Geld notwendig wird, um die gleichen Güter zu kaufen. Deshalb werden die Sparraten mit 3% jährlich angepasst, gleiches muss für das Ergebnis erfolgen. Bei 6% Rendite entspricht der finale Wert zurückgerechnet auf die heutige Kaufkraft nur noch 76.500 Euro, bei 8% immerhin fast 118.000 Euro. Berücksichtigt man, dass 48.000 Euro im heutigen Wert eingezahlt wurden (nominal über 90.000 Euro, aus 100 Euro monatlich über 40 Jahre mit jährlicher Steigerung), belaufen sich die Erträge bei 6% Rendite damit lediglich auf 28.500 Euro und auf immerhin 70.000 Euro bei 8%.
Aber auch dieses Ergebnis ist mit Vorsicht zu genießen: Immerhin müssen mindestens 4% Rendite pro Jahr erwirtschaftet werden, damit real kein Verlust entsteht, also zumindest ein kleiner Gewinn von 4.000 Euro. Außerdem ist nicht garantiert, dass die Inflation konstant 3% betragen wird und die Aktienmärkte dauerhaft wieder 6% oder 8% erzielen werden. Der Sparplan ist also keinesfalls die „Wunderwaffe“, die jeden Anleger aufgrund des inhärenten Zinseszinseffektes reich machen wird, sofern er nur lange genug einzahlt.
Die Vermögensaufteilung beeinflusst die Rendite
Und, wo wir gerade bei schlechten Neuigkeiten sind: Der Vermögensaufteilung kommt dabei ebenfalls eine große Bedeutung zu. Während eine Aktienquote von 100% in jungen Jahren noch vertretbar sein könnte, kann sie im Ruhestand zu riskant werden. Je nach Vermögensaufteilung und höherem Anteil sicherer Anlageklassen kann die zu erwartende Rendite durchaus geringer ausfallen und die Erträge komplett vernichten. Trotzdem macht es selbstverständlich Sinn, breiter zu diversifizieren, denn die Ereignisse der Vergangenheit lassen wenigstens einen signifikanten Crash im Anlagezeitraum von 40 Jahren als sehr gewiss erscheinen. Das bietet jedoch gleichzeitig eine Chance, die ausgenutzt werden kann, um die Rendite zu steigern.
Bei dieser Herangehensweise spielt der Sparplan besonders dann seine Stärken aus, wenn die Kurse richtig tief fallen und sich anschließend wieder erholen. Bei einer konstanten Steigerung dagegen werden die Anleger bevorzugt, die bereits früh einsteigen konnten, weil sie die erforderlichen Mittel nicht ansparen müssen. Der Vorteil der Diversifikation kommt ebenfalls bei deutlichen Kursrücksetzern zum Tragen, weil es sich dann lohnt umzuschichten und von den tieferen Kursen zu profitieren.
Darüber hinaus kommt beim Sparplan dem letzten Kurs eine große Bedeutung zu, weil dieser das (End-)Vermögen bestimmt. In der Ansparphase kann es unerheblich sein, wo die Kurse stehen, aber das ändert sich mit Beginn der Entnahmephase. Im Ergebnis ist festzustellen, dass ein Sparplan in der Regel nicht alle finanziellen Probleme löst. Er kann jedoch ein sehr guter Baustein für die Altersvorsorge sein, der den notwendigen Teil zwischen dem tatsächlichen Bedarf und der gesetzlichen Rente abdeckt. Bei diesen Sparbeiträgen kommt es weniger auf die letzten Zehntel einer optimalen Rendite als auf die Sicherheit an, dass das Vermögen wirklich vorhanden ist.
Mit dem Quäntchen Glück zur richtigen Zeit wird der Aktienmarkt eine bessere Rendite abwerfen, als erwartet und mit etwas Pech leider weniger. Dennoch sind diese volatilen Erträge notwendig, weil ansonsten die Inflation das gesparte Geld über den langen Zeitraum zu sehr entwertet. Ohne einen regelmäßigen Blick ins Depot und Umschichtungen zur rechten Zeit wird es aber nicht gehen. Die zusätzliche Rendite und die außergewöhnlichen Chancen, die sich nach starken Marktbewegungen bieten, sollten und dürfen nicht ungenutzt bleiben.